Samstag, 29. März 2014

Stadttheater Heilbronn - 65 Jahre alt - Geburtstagsgruß an Klaus Wagner (1995)

Für den Intendanten am Heilbronner Stadttheater - Zum 65. Geburtstag

Klaus Wagner beim Freilichttheater -
Feuchtwangen und die Folgen

Von Jürgen Dieter Ueckert

Noch ein paar wenige Wochen - dann sind es genau 16 Jahre, die ich Klaus Wagner kenne. Damals war er ein wenig älter als ich heute. Er hatte viel vor sich. Dennoch schien er mir beim ersten Kennenlernen ganz und gar nicht zuversichtlich.

Wie seit Jahrzehnten schon in diesem Landstrich der Schwaben und Franken beginnt Ende des Frühlings die Saison der Freilichttheater. An irgendeinem dieser vielen Premierentage war ich in Feuchtwangen, um über die Eröffnung der Festspiele mit einer Shakespeare-Komödie für den Südfunk zu berichten. Heinz Kipfer, einst schweizerisch-jugendlicher Held in der ausgehenden Bison-Aera, war damals in Krefeld engagiert. Und der Krefelder Intendant - wie es der Zufall so wollte - war auch Freiluft-Intendant in Feuchtwangen. Klaus Wagner, ein mir damals völlig Unbekannter, inszenierte bei den Kreuzgangspielen 1979 das Märchen.Bei der Eröffnungs- und Premierenfeier stellte mir Heinz Kipfer einen der drei Kandidaten für die letzte Intendanten-Wahlrunde in Heilbronn, eben diesen Klaus Wagner vor.

49 Bewerber hatten sich als Bison-Nachfolger in Heilbronn beworben. Eine Findungskommission suchte unter der Vielzahl fünf Bewerber aus und präsentierte diese dem Verwaltungsausschuß. Und der hatte drei davon erkoren, aus denen der Heilbronner Gemeinderat am 28. Juni 1979 einen zum Intendanten wählen sollte.

Alf André, der Intendant der Badischen Landesbühne in Bruchsal, war der Mann für die Sozialdemokraten. Karl-Heinz Büchi, freier Regisseur aus Baden-Baden, in Heilbronn als Schauspieler und Regisseur wohlbekannt, von Teilen der CDU und FDP unterstützt, hatte sich durch schiefe Angaben in seinem Lebenslauf im Vorfeld schon disqualifiziert. Und dann gab es da noch den dritten, wie Herbert Wehner sagen würde, das „freischwebende Arschloch“ oder in freundlichem Deutsch die „parteiungebundene Alternative“: Klaus Wagner, Regisseur aus Eckenroth.

Für mich war schon in Feuchtwangen klar: Klaus Wagner ist der neue Intendant des Heilbronner Stadttheaters. Warum ? Die bürgerliche Mehrheit im Heilbronner Gemeinderat würde niemals einen Kandidaten der SPD wählen. Als ich an jenem Abend in Feuchtwangen Klaus Wagner zum ersten Mal die Hand schüttelte, da sagte ich ihm frohgemut, daß er der neue Intendant von Heilbronn sei. Er schaute mich ungläubig an, lachte verlegen, wiegelte ab - was sollte er auch anderes tun. Die Wahl war noch nicht gelaufen. Und da kommt so ein seltsamer Mensch aus dem Provinznest Heilbronn daher und verkündet ihm seltsame Botschaften - als sei er ein Bruder jener Dame aus Delphi.

Am Tag der Wahl bestätigte sich meine kühne Voraussage. Zum Erstaunen der meisten Gemeinderäte wurde im ersten Wahlgang mit 22 von 39 Stimmen der 49 jährige Klaus Wagner gewählt. Seine Vorstellungsrede überzeugte. Ohne Zettelwirtschaft wurde temperamentvoll ein fundiertes Konzept vorgetragen.

Mein erstes Interview - gleich nach der Wahl - war von bemerkenswerten Wagner-Sätzen geprägt. Ich hatte Klaus Wagner unter anderem mit einem Satz eines in Süddeutschland damals bekannten und gefürchteten Kritikers konfrontiert, der vor der Heilbronner Intendantenwahl schrieb, daß jeder der drei Bewerber als neuer Stadttheater-Intendant nicht in der Lage sei, neue Zuschauerströme nach Heilbronn zu bringen, denn der Gewählte wolle sich in Heilbronn nur festsetzen - aufs Altenteil. Klaus Wagner antwortete diplomatisch: „Ich kenne den Herrn nicht, aber er kennt mich bestimmt auch nicht.“

Klaus Wagner, der expressive Kandidat - der war damals auch ein Mann mit stiller Sehnsucht. - „Nun bin ich seit 22 Jahren ein Regisseur, der fünf, sechs Wochen in einer Stadt ist, eine Produktion macht. Deshalb habe ich eine Breite an Möglichkeiten, wie man es sich nur wünschen könnte - nicht an Fähigkeit. Ich habe in dieser Spielzeit 1978/79 von einem Volksstück, über ein Musical, über eine literarische Komödie, über einen Klassiker nun auch noch ein Kinderstück inszeniert. Bisher habe ich immer gesagt, ich habe drei Wohnzimmer: das eine ist das Auto, das zweite ist das Café am Nachmittag und das dritte ist die Wirtschaft am Abend, in der man sitzt. Dies wird anders werden. Ich freue mich darauf, daß es anders wird. Nicht weil ich nun seßhaft bin und Unbehagen von mir tue. Ich werde das meine dazu tun - über Disziplin, über das Wissen um Aufgaben.“

Ein Stadtrat aus den Reihen der CDU hatte mir nach der Wahl im Heilbronner Rathaus spöttisch dargelegt: „Die SPD hat in Heilbronn den Theaterbau durchgedrückt, wir haben ihnen den Intendanten dazu gewählt.“ - Die diplomatische Reaktion des frischgewählten Intendanten Klaus Wagner: „Ich werde versuchen, für die SPD genauso ein Intendant zu sein wie für die CDU. Das Vertrauen ehrt mich.“Und das Programm des neuen Intendanten? - „Ich meine, heute ist es eine Chance zu sagen, ein Theater ist zu nichts anderem gut und hat zu nichts anderem gut zu sein, als die Sache zu präsentieren. Ich finde es natürlich eine gute Aufgabenstellung, sagen zu können: wir sind nicht gebunden, an nichts.

“Widersprüche! Ein Mann, der für CDU, SPD, FDP und andere Parteien gleichermaßen Intendant sein will, aber ohne Bindungen - gibt es den? Nein. Klaus Wagner wurde gebunden und gefesselt. Er merkte es, er verspürte es - und die Seile schnitten mit der Zeit Wunden in sein Fleisch. Jedermanns Lieblings, ist jedermanns Dackel - heißt es im Schwäbischen. Klaus Wagner war und ist nicht jedermanns Liebling.

Aber Klaus Wagner war damals erst gewählter Intendant - noch kein amtierender. Das Heilbronner Theater rückte durch die Wahl ins Blickfeld der breiten Öffentlichkeit in Baden Württemberg. Mit der kleinen Provinzbühne im letzten Spieljahr der Aera Walter Bison ging es steil bergab. Auf dem baden-württembergischen Theatertreffen in Karlsruhe wurde das Heilbronner Theater schlicht zu einem „Fall“ erklärt. Die Stuttgarter Zeitung schrieb, diese Bühne sei ein „Fall, der aus aller Kritisierbarkeit eigentlich herausfällt, ein klinischer Fall sozusagen“. Und die Südwestpresse kommentierte: „Das Heilbronner Theater blamierte sich und die Theatertage bis auf die Knochen.“

Walter Bison war der Intendant des Theaterprovisoriums und damit einer jener Männer, die den Theatergedanken in der Industrie- und Handelsstadt am Neckar jahrzehntelang am Leben hielten. Eine harte und undankbare Arbeit, welche die Heilbronner Kulturpolitik der Nachkriegszeit prägte. Eine Zeit, die mit seinem Ausscheiden 1980 zu Ende ging.Keine gute Ausgangsposition für einen Mann wie Klaus Wagner, der nun wieder beim Punkt Null ansetzen mußte.

Der lange Marsch aus der Kulturwüste begann. Wagners selbstkritisches und ehrliches Credo für seine Bison-Nachfolge: „Es geht nicht um etwas Besseres, wo eigentlich alles anders werden muß.“ - Walter Bison hatte seine Intendantenzeit mit dem Schwank von Arnold und Bach „Die Spanische Fliege“ beendet. Anspielungen auf die Krämerseelen, das Spießige in den Heilbronner Bürgern, ließ Bison verärgert nochmals Revue passieren - vor allem in den „Stützen der Gesellschaft“ und in Dürrenmatts „Meteor“, seiner Abschiedsinszenierung. Schlußsatz in der „Spanischen Fliege“ - auf seinen Nachfolger Klaus Wagner gemünzt: „Du wirst ihm die Sache doch nicht gleich verübeln.“ - Eine letzte Hoffnung des scheidenden Intendanten Walter Bison, im neuen Haus am Berliner Platz auch einmal inszenieren zu dürfen. Es blieb seine Hoffnung.

Klaus Wagner wollte kein langweiliger Intendant sein, sondern ein Mann mit Vielfalt und Überraschungen. Das Musical „Cabaret“ hatte er im November 1979 in der Planung. Er wollte die alte Liebe der Heilbronner, das musikalische Theater, wieder aufleben lassen. Und mit „Anatevka“ in der nun zweiten Spielstätte, dem ehemaligen Kühlraum der Alte Kelter, wurde das Versprechen eingelöst. Lustig sein, ohne nachzuspüren, woher die Lust dazu kommt - bemerkte ich damals zu dieser Klaus-Wagner-Inszenierung. Sie kann Brüche im Lustigsein darob nicht begreiflich machen, kann kaum klarmachen, wann der Spaß ins Grauen umkippt. So bleibt das Grauen oberflächliche Nebensache.

Dominant ist der Theaterklamauk. Aber der ist so kraftvoll geboten, so naiv und dreist ansteckend, die Musik mit dem kleinen Orchester so engagiert gespielt, daß man das zuckrige Bühnenbild vergessen kann, die Inszenierung als einen Höhepunkt begreifen lernt - nach all den vielen Jahren Heilbronner Theaterarbeit, in denen nicht nur der Bau provisorisch war, sondern auch die Herstellungen von Inszenierungen.

In Heilbronn begann Klaus Wagner mit Theater, das in der Käthchenstadt auffällig war - an anderen Theaterorten aber schon zum Alltäglichen gehörte. Wolff von Lindenau als Mireille Matthieu war eine kleine Sensation - im Theater. „Zieht ein Mann ‘nen Fummel an, schreit das Volk so laut es kann.“, kommentierte der Theatermarkt-Moderator. Georg Hensel, der Theaterkritiker meinte einst: „Tragödie und Komödie sind nichts anderes als Verkehrsunfälle, die zu sehen eine Menge Menschen ins Theater geht.“

Diese schlichte Weisheit nahm sich Klaus Wagner zu Herzen - und bot damit dem Heilbronner Publikum lang Entbehrtes - die Unfälle des Lebens.Außerdem hielt sich Klaus Wagner an Bert Brechts Satz: „Das Theater muß nämlich durchaus etwas Überflüssiges bleiben dürfen, was freilich dann bedeutet, daß man für den Überfluß lebt.“ - In Heilbronn war das Theater immer etwas Überflüssiges. Vielleicht dank alter Werte, die von pietistischen Grundhaltungen herrühren. Bretter, die die Welt bedeuten, sind von teuflischer Vergänglichkeit angefressen. Auf dieser „Bretter-Welt“ liegt eben ein böser Akzent, ein negativer Ton. Für eine pietistische Denunziation des Theaters, die garnicht nach Inhalten und Ausführungsform fragt, gibt es mannigfache Zeugnisse. Zum Beispiel das Bild „Vom breiten und schmalen Weg“. Beliebter Wandschmuck in pietistischen Häusern, der mir noch als Schüler im Hohenlohischen begegnete.

Das Moral-Bild zeigt unter den verhängnisvollen Verlockungen am breiten Weg neben Ballsaal, Wirtschaftsgarten und Spielhölle auch einen klassizistischen Theaterbau. In einer pietistischen Stunde wurde zu sittlichen Erbauung immer wieder von den beiden jungen Mädchen erzählt, die vom Lande nach Stuttgart gekommen waren und die sich zu einem Besuch des Opernhauses verführen ließen. Auf dem Wege begegnete ihnen der bekannte Prälat Bengel, der nur die Frage zu stellen brauchte: „Kinder, seid ihr auch auf dem rechten Wege?“, und schon machten sie kehrt und schämten sich ihrer Theaterlust.

Daß im Theater gute Musik zu hören, daß bildende und sittlich wertvolle Inhalte präsentiert wurden, das stellten die württembergischen Pietisten nicht in Abrede. „Aber wenn an der besten Speise Gift klebt, willst Du sie dann kosten?“, fragte der Stuttgarter Hofprediger Hediger hintergründig. Und von einem anderen frommen Mann in Württemberg wird berichtet, daß er sich in Gedanken daran den Theatergenuß versagte, er könnte während der Aufführung sterben und müsse vor dem Thron Gottes dann bekennen, er komme „aus der Komödie“.

Vielleicht erklärt sich daraus die manchmal harte und ignorante Toleranz in Heilbronn dem Theatergeschehen gegenüber. Man achtet die Beharrlichkeit des Theatermachers, daß da einer für den „Überfluß“ so intensiv lebt - aber man hält ihn eben für ein wenig verrückt. Im besten Sinne des Wortes wohlgemerkt. Aus der Normalwelt verrückt in die Welt des Zerrspiegels, der Illusion, des Gaukelns, die wir alle gern ein wenig genießen, mit der wir aber wirklich nichts zu tun haben wollen. Klaus Wagner hat in seinen Heilbronner Jahren das wohl oder übel erkennen und erleiden müssen. Er konnte tun und lassen, was immer er wollte.

Einen Skandal gab es nicht, mochte er auch noch so viele nackte Leiber über die Bühne jagen. Nur wenn er mehr Geld für sein Theater wollte, das war dann skandalös.Dabei hatte der Intendant zum fünfjährigen Jubiläum des Theaterneubaus am Berliner Platz auf meine Frage, inwiefern sein Theater skandalös sei, denn in Komödie und Tragödie werde der Mensch doch immer am Rande seiner Existenz gezeigt, mutig geantwortet: „Für Menschen, die Einordnung und Unterordnung für ein Lebensrezept halten, ist das Außerordentliche immer ein Skandal. Und daß der Mensch im Theater in Komödie und Tragödie am Rande seiner Existenz angesiedelt ist, halte ich für wahr. So verstanden ist Theater skandalös. Und es gehört zu meinem Konzept für das Theater, die Wahrheit zu zeigen und Menschen am Rande ihrer Existenz zu zeigen. Leider gelingt es nicht immer zu erfüllen, was man will.“

Jetzt ist Klaus Wagner 65 geworden. Und damit ist der Intendant dem Rentenalter nahegekommen. Walter Bison regierte das Heilbronner Theater insgesamt 26 Jahre lang als er im Jahre 1980 die Geschäfte übergab. Klaus Wagner bringt es bisher „nur“ auf fünfzehn Jahre. Und die haben erbracht, was einst Gemeinderat und Stadtväter von ihrem Theater erwarteten und erhofften, als sie Klaus Wagner kürten: eine Garantie für eine erfolgreiche Theaterarbeit in der sogenannten „Stadt der Krämerseelen“. Der Intendant hat Wort gehalten.

Ein Satz gilt ja - immer noch: dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, auch den Intendanten nicht. Vielleicht mit einer Einschränkung: Mimen, die auf einer Filmrolle in vielen kleinen Bildchen verewigt sind, diesen Mimen flicht die Nachwelt gelegentlich noch Kränze. Aber jenen, die nur auf der Bühne oder als Regisseure hinter oder vor der Bühne standen ? Deren Kränze sind größtenteils verwelkt - manchmal sogar zwischen zwei Buchdeckeln. Wenn jetzt Klaus Wagner zum Geburtstag Glückwünsche entgegennehmen kann, dann bleibt die Erinnerung in seinem Kopf, in den Buchstaben der Tageszeitung und dieses Buches, in einem Bild und in Tönen auf Magnetband eine Zeit lang erhalten. Und dann geht sie den Weg alles Irdischen. Es wäre ja auch selten komisch, wäre es in diesem Fall anders.

Wenn ich auf meine Theaterzeit zurückblicke, ja was bleibt? Wer in Heilbronn theatralische Kunst erleben wollte - so vor einem viertel Jahrhundert - ja, der erlebte diese Kunst wie jene Bürger, die vor einhundert Jahren in dieser Stadt Theater erleben mußten: reichlich provisorisch. Dem ersten richtigen Theaterbau am Ende der Allee, 1913 erbaut, folgte der zweite knapp siebzig Jahre später. Und nach dem Krieg gab es 37 Jahre Theater-Provisorium. Das hat sich geändert: Markenzeichen heute - ein volles Theater und ein Torso als Theaterbau. Wer vom Norden in die Stadt kommt, dessen erster Theatereindruck ist eine weiße Wand und ein leerer Schotterplatz. Erst dann sieht er das Theater. Auch das kann sich ändern. Wenn man nur will. Und man will ja demnächst auch. Nur nicht mehr zur Intendantenzeit von Klaus Wagner.

Einem Kind, einem Jugendlichen wie mir - welche Theatererlebnisse wurden dem vor rund dreißig Jahren in und um Heilbronn geboten? „Götz von Berlichingen“ in Jagsthausen - ein absolutes Muß. Man las das Drama ja in der Schule - in verteilten Rollen. Da konnte und mußte jegliches Spektakel im Burghof nur besser sein. „Die Bürger von Calais“ oder „Jedermann“ auf den 54 Stufen in Schwäbisch Hall. Genickstarre vor Erhabenheit und der steilen Treppe. „Minna von Barnhelm“ und „Die Entführung aus dem Serail“ am Stuttgarter Staatstheater. Wer hätte das gedacht - erstaunlich, was Theater alles kann, mußte sich der kleine Provinzler sagen. Und dann das Heilbronner Bison-Provisorium im Gewerkschaftshaus - als Hausmannskost.

Jetzt, nachdem ich das Schwabenalter schon lange überschritten habe, Klaus Wagners erste wilde Erfolgsjahre zunächst kritisch in Zeitung und Funk begleiten durfte, ist mir das Theater in vielen Teilen fremd geworden. Ein Freund des Tanztheaters war ich nie. Oper lernte ich mit zunehmendem Alter schätzen und lieben. Und das Sprechtheater? In diesem Falle bin ich ein Kind der Zeit, ein Kino-Fan. Zeitgenössische Themen werden im Medium Film schnell und aktuell umgesetzt. Was uns heute unter den Nägeln brennt, die aktuellen Themen unserer Zeit, die kann ich morgen im Filmtheater oder auf einem Bildschirm in dramatische Formen umgesetzt im Zerrspiegel der Kunst erleben. Wie zu Zeiten Lessings und Schillers auf dem Theater.

Dennoch, wenn ich an Klaus Wagners „Nathan“, seinen „Theaterdirektor“ zurückdenke, dann weiß ich, daß es sich gelohnt hat, mit diesem Mann über viele Jahre hinweg zu streiten, zu sprechen, Gedanken auszutauschen. Wenn ich heute all die Interviews der vergangenen fünfzehn Jahre sichte, an die Gesprächsrunden im Radio mich erinnere, dann fällt mir auch immer wieder jener Satz ein, den mir Klaus Wagner im September 1980 in einem Brief schrieb: „Soll ich sagen, daß mir an einem entkrampften Verhältnis zwischen uns liegt?“

Die Entkrampfung - so stelle ich für mich fest - ist eingetreten. Liegt es daran, daß ich so wenig noch über das Heilbronner Theater schreibe? Es kann sein. Würde ich mehr über Kultur und Theater schreiben, wir würden uns bestimmt fetzen. Aber auf einem anderen Niveau als zu Beginn der achtziger Jahre. Hoffentlich auf einem besseren. Im ersten großen Streit zwischen Heilbronner Theaterkritik und dem Theaterchef formulierte Klaus Wagner pointiert „Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, sogar ein Kritiker.“ - Wer wollte das ernsthaft bestreiten. Aber hatten Heilbronner Kritiker eine eigene Meinung? Und wenn nicht, welche hatten sie dann?

Was blieb von der Kritik? Beschriebenes, bedrucktes Papier - alte Tonbänder. Was blieb von den Inszenierungen? Die Erinnerung in den Köpfen der Zuschauer. Meine Erinnerungen.Und was bleibt von Klaus Wagner? Die vielen Inszenierungen mit Schauspielern, die zum Teil erfolgreich an anderen, ja auch größeren Häusern Karriere gemacht haben. Klaus Wagners Karriere ist der Erfolg seines Heilbronner Theaters.

Ich bewundere, wie er tagtäglich immer wieder sich vor den Karren spannt, um das Bedürfnis der Bürger nach Theater zu erfüllen. Ich hätte ihm gewünscht, daß er seine Intendanten-Laufbahn an einem Staatstheater beendet. Aber wie heißt es doch in den letzten Jahren so schön und treffend: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Klaus Wagner wurde zu spät Intendant. Und er war immer zu wenig Politiker, hatte zuviel Charakter.

Wenn ich an jene Tage im Juni 1979 zurückdenke, dann erinnere ich mich an die Sätze des 100-Jahre-Mannes: Es gibt einen Augenblick des Glückes, der uns jäh überfällt. Er verdrängt die Gedanken wie das absolute Licht den Schatten; die Sterne müssen günstig stehen. Er wußte nicht, wie es werden sollte; er hatte keinen Plan. Aber es würde gut werden. Es würde glücken, selbst ohne vergänglichen Ruhm. (Ernst Jünger: Die Zwille)

Danke für die gute Zeit mit dem Heilbronner Theater, das von der Persönlichkeit eines Klaus Wagner und seinem furiosen Handeln geprägt ist.

Geburtstagsgruß für Klaus Wagner, Intendant (1995)
Heilbronn, 24. April 1995

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