Samstag, 29. März 2014

Stadttheater Heilbronn - Kilianpreis für Viola von Lewinski (1995)

Laudatio auf  Viola von Lewinski


Voll von Lobpreisungen
                                                                 
Von Jürgen Dieter Ueckert


Den klassischen Frauenkonflikt schlechthin brachte das Heilbronner Stadttheater als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne - war über das Schauspiel des britischen Jungdramatikers Jim Cartwright „Große  kleine Stimme“ zu lesen. Der klassische Frauenkonflikt, so ließ ich mich als Mann belehren, das ist nicht die Pubertät, die erste Liebe, der erste richtige Mann, das erste Kind, sondern der Mutter-Tochter-Konflikt. Obwohl der ja in der gängigen Theaterlitertaur und Belletristik nur am Rande vorkommt. So lernt man eben immer wieder hinzu.

In Heilbronn hatte der Regisseur Paul Burian das Stück zwischen Gesellschaftssatire, Milieustudie und menschlicher Tragödie angesiedelt. Sagten die einen. Dann war wieder zu hören, die märchenhafte Komödie sei mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor gewürzt worden. Paul Burian ist es gelungen, einen Konflikt auf die Bühne zu bringen, der auf Grundstrukturen familiären und zwischenmenschlichen Agierens zurückzuführen ist. Die Figuren in einem Schaulauf durch die Höhen und Tiefen menschlicher Existenz, seien teilweise grotesk überzeichnet worden, ohne sie zu denunzieren. Der Regisseur Burian zeige fatale Fluchtstrategien: Aufstieg und Fall von Little Voice - der „Großen, kleinen Stimme“. Oder allgemein gesagt: Werden und Vergehen, Blühen und Absterben, Krieg und Frieden, Sieg und Niederlage. Wie schön. Wie alltäglich.

Aber in diesem Stück geht es nicht um Steffi Graf oder den Schwimmstar Franziska van Almsick, sondern um ein junges menschenscheues Wesen, das die Gabe besitzt die Stimmen seiner Vorbilder Judy Garland, Edith Piaf, Marilyn Monroe und Shirley Bessey perfekt zu imitieren. Und wie es üblich ist in unserem allzumenschlichen, trivialen Leben, wittert da einer sein Geschäft. Und das scheitert, weil Little Voice nur in ihrer klitzekleinen Traumwelt zurechtkommt, in der sie die vom Vater ererbten Lieblingsplatten hört. Zum Verdruß der Mutter - und da haben wir ihn den Mutter-Tochter-Konflikt.

Die Preisträgerin des vergangenen Jahres in dieser Sparte Ingrid Richter-Wendel spielte diese Mutter - versoffen, sprunghaft-unberechenbar als vulgäre Schlampe mit dem Drang  zu Höherem. Sie erscheint als die tragische Gestalt des Stückes - schrieb Theophil Hammer. Nüchtern dagegen umreißt Claudia Ihlefeld diese Frau, die da auf ihrem glutroten Bett lauert wie eine hungrige Wölfin, in ihrer rasenden Sucht nach Männern, Alkohol und Anerkennung. Eine personifizierte akute Absturzgefahr. Was übrigens für alle in Jim Cartwrights Gruselkabinett gilt. Anmerkung: Es ist ein alter Lehrsatz der Ästhetik, daß das Abschreckende nicht abschreckend dargestellt werden darf. Im zeitgenössischen Theater kaum beherzigt.

Dessen ungeachtet: Realitäten des menschlichen Lebens auf die Bühne bringen - wollte der Regisseur Paul Burian. Nicht den Schauspielern einfach seine Ideen überstülpen, nicht die Peitsche schwingen. ‚Mich interessiert, was Menschen anbieten - und was ich aus ihnen herauslocken kann‘. Ließ er bei den Proben verlauten. Und das Resultat? Zu isoliert bleiben die handelnden Personen. Ihre Charaktere durchlaufen keine Entwicklung. Samt und sonders handelt es sich um deformierte Gestalten, die zu sinnvoller Kommunikation oder zur Problemlösung nicht fähig sind, weil sie mit sich selbst genug zu tun haben. Das Stück hinterläßt beim Betrachter keine tieferen Spuren. Schrieb die Stuttgarter Zeitung. Und die Heilbronner Stimme: Das Stück wurde beim Premierenpublikum im Großen Haus begeistert aufgenommen. Bei diesen Unterschieden macht Zeitunglesen wieder Spaß.

„Die Vokale kostet sie auf ihrer Zunge wie schweren, dunklen Wein. Ihre Augen scheinen Dinge zu sehen, die kein Mensch vor ihr je sah. Ihre Bewegungen rutschen graziös ins Trancehafte. Sie schreitet hellwach an der Grenze zum Wahnsinn entlang, macht mal einen Schritt hinüber, dann wieder einen Sprung herüber. Ihre Figuren kommen aus dem Reich, in dem sich Körper in Gespenster auflösen, blitzgescheit und komisch.“ - Sowas liest man gern. Aber es ist keine Beschreibung der Preisträgerin für die beste weibliche Hauptrolle, für Viola von Lewinski.

Und noch ein Zitat - wenn ich schon dabei bin: „Sie scheint ihre Figuren mit den Schultern, die sie kullern und kugeln lassen kann, vor sich herzuschieben. Läßt die Augen rollen, die Sprache in lauter stimmhafte „S“ sich ironisch aussingen, nudelt und schnauft über Abgründe hinweg. Sie kann, wenn das Herz spricht, zu einem Hohnklumpen eingefrieren. Und sie kann, wenn Blut fließt und Mord grassiert, so sachlich-fröhlich sein wie bei einem Kaffeekränzchen - nur: daß man hinterm Klumpen das Herz auch spürt und hinterm Lächeln den Schrecken schmeckt.“ - Da hat einer die Worte im Hirn abgeschmeckt. Eine schöne Beschreibung. Aber mit unserer Preisträgerin und ihrer Preisrolle hat das wieder nichts zu tun. Auch wenn ich Ähnliches gern über sie gelesen hätte. Was nicht ist, kann ja noch werden.

Sie werden sich jetzt fragen: Was wurde über sie denn gesagt?  Heilbronner Stimme: „Die schüchterne Little Voice (Viola von Lewinski) lebt zurückgezogen in ihrer Kunstwelt voller Schallplatten großer Sängerinnen und Stars. Die gnadenlose Abrechnung von Little Voice mit der Mutter - schrill und etwas hektisch versucht Viola von Lewinski hier Spannung zu lösen.“ Und die Stuttgarter Zeitung:  „ ...in sich zurückgezogen: Viola von Lewinski.“ Das wars - nicht eben viele Worte von der Kritik im September 1994. Aber Sie, die Mitglieder des Theater-Vereins haben demokratisch entschieden. Viola von Lewinski erhält für die beste weibliche Hauptrolle den Kilianpreis 1995. Und damit haben Sie Gescmack und Qualität bewiesen.

Denn Sie kennen diese 158 Zentimeter große junge Dame, die zwischen 25 und 30 Jahre alt sein dürfte. Ihr Alter will sie ja nicht verraten - da sei sie furchtbar eitel. Sie, die regelmäßigen Theaterbesucher haben Viola von Lewinski als Virginia in Canterville, als Karoline in  „Kasimir und Karoline“, als Recha im Nathan, als Mädchen im „Der Weg zum Bahnhof“, als Sozialarbeiterin in „Hungrige Herzen“, als Kristin in „Fäulein Julie“, als Mitzi in „Der Drang“, als Angel City Four in „City of Angels“ oder als Little Voice in „Große kleine Stimme“ gesehen, bewundert, lieben gelernt.

Geliebt hat Viola von Lewinski, so sagte sie als sie in Heilbronn eintraf, die Rolle der Lena in einer Bremer Studentenproduktion von Büchners „Leonce und Lena“. Sie schätze mehr das modernistische Theater, das nicht so direkt eins zu eins genommen werde. Sie liebt die Verbindung avantgardistischer Musik mit Sprache. Und fast ebenso wichtig wie die Arbeit unter Hansgünther Heyme in Bremen ist ihr, der Absolventin der Berliner Hochschule der Bildenden Künste, das Spiel in unabhängigen Produktionen gewesen. Hohe Ansprüche einer energiegeladenen Schauspielerin.

Aber bekannt ist ja auch, daß das Gewerbe der Schauspieler changiert  - zwischen Betrug und Gottesdienst, Hochstapelei und höherer Bedeutung. Die Frage ist, in welcher Gesellschaft das Gewerbe ausgeübt wird. Die deutschen Schauspieler, so sagte ein George Tabori in einem Interview, tun alles. Sie machen Sachen, die kein englischer oder amerikanischer Schauspieler machen würde. Wenn man einem amerikanischen Schauspieler sagt: ‚Hier sollst Du weinen und wütend sein‘. Dann gibt er zurück: ‚Jetzt gleich? Du spinnst wohl.‘ Tabori meint damit: in Amerika sei das Theater ganz anders. Dort sind die Schauspieler die Hauptsache, bei uns ist es der Regisseur. In Deutschland gibt es noch ganz stark die Tradition des Hoftheaters, die Hierarchie vom Intendanten bis hinunter zum Anfänger. Außerdem sind Ordnung und Disziplin primäre Tugenden, im Gegensatz zu Freiheit und Anarchie wie in England und Amerika.
Faszinierend - diese Allgemeinplätze.

Aber dafür, daß der deutsche Schauspieler sich darauf hat trainieren lassen, von Regisseuren gebrochen und gebogen zu werden, hält er sich dann als Leidender schadlos. Er macht aus seinem Masochismus einen Anspruch. Zunächst einen Anspruch an sich selbst. Er wird, bevor noch der Regisseur an ihn herantritt, sofort bei sich selber Regie führen, die Figur, die er spielen soll, abfragen, welchen Sinn, welche Interpretation er ihr unterlegen soll. Der deutsche Schauspieler greift gerne zum passenden psychologischen Kästchen, in das er die Figur und sein Spiel preßt. Er sucht nicht nach dem Leben, das er darstellen soll, er greift nach dem Papier, in das er das Leben einwickeln kann.

Und daraus folgt: Viele deutsche Schauspieler haben Zeitungsausschnitte in der Tasche, die sie zücken wie Beweise. Übrigens nicht nur Schauspieler - auch Politiker. Aus diesen Papierfetzen ist ersichtlich, daß er oder sie ein wunderbarer Schauspieler ist. Er, der Herr der Kästchen, ist süchtig nach Kästchen-Worten, Schubladen-Phrasen und Etiketten. Faule Kritiker sind seine Komplizen. Ein einziges „wunderbar“ oder „genial“ hilft über Jahrzehnte der Demütigung hinweg und berechtigt ihn nach den Sternen zu greifen. Und in mancher Kritik wird auch stehen, er habe die Sternenrolle geschultert. Oder es steht da, er sei unter ihr „zusammengebrochen“. Deutsche Schauspieler spielen viele Rollen, aber in allen Rollen meist die eine: die Rolle des Atlas, der die Welt trägt und erträgt..

Dabei sind sie doch nichts als Fleischmacher - und die Goldfinger des Theaters. Der Schauspieler macht aus dem fremden Wort sein Fleisch und verwandelt den oftmals privaten Mist des Autors in öffentliches Gold. Beides sind heilige Vorgänge - ist hochsensible und eitel-brutale Verwandlungsmystik. In jedem Schauspieler  - so hoffe ich doch - steckt auch etwas von einem Priester und vom ziegenbeinigen Zaubergott Dionysos. Ist Viola von Lewinski diese Fleischwerdung  von Papier, diese Verwandeln von privatem Mist in öffentliches Gold ein wenig gelungen? Ja, meine ich - und Sie, die Jury haben das bestätigt.

Es gibt in den „Besuchern“ von Botho Strauß einen Jungmimen namens Max, der die Bühne leerspielen, sich wenigsten für zwei, drei Sekunden neben der Wahrscheinlichkeit aufhalten will. Er möchte dem Publikum etwas Wunderbares, Unerhörtes, Grenzüberschreitendes zeigen. Und lapidar vernichtet im gleichen Stück der große, brillante Karl Joseph mit einer behaglichen Philippika dieses Ansinnen: „Nicht wahr, die Bühne, das Theater. Das waren schon tausend Taten, tausend mehr oder weniger lebensentscheidende Handlungen. Und am Ende hat sich nichts getan. Man hat telefoniert, geliebt und sich verwechselt. Man ist gerannt und hat gewartet. man hat sich versteckt und sich aufgeplustert. Man hat sein Herz verloren, bekam den Schädel gespalten und hat mit verdrehter Zunge gesprochen. Man war der eitle Verführer und der dumme August. Und am Ende? Am Ende ist die Bühne gerade so leer wie am Anfang.“ Ende der Vernichtung. Heute ist diese Bühne voll - voller prämierter Theaterleute. Und voll von Lobpreisungen. Dazu haben wir ja auch allen Grund.

Theater-Verein Heilbronn e.V.
Stadttheater Heilbronn
am 9. Juli 1995




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