Voll von Lobpreisungen
Von Jürgen Dieter Ueckert
Den klassischen Frauenkonflikt
schlechthin brachte das Heilbronner Stadttheater als deutschsprachige
Erstaufführung auf die Bühne - war über das Schauspiel des britischen
Jungdramatikers Jim Cartwright „Große
kleine Stimme“ zu lesen. Der klassische Frauenkonflikt, so ließ ich mich
als Mann belehren, das ist nicht die Pubertät, die erste Liebe, der erste
richtige Mann, das erste Kind, sondern der Mutter-Tochter-Konflikt. Obwohl der
ja in der gängigen Theaterlitertaur und Belletristik nur am Rande vorkommt. So
lernt man eben immer wieder hinzu.
In Heilbronn hatte der Regisseur
Paul Burian das Stück zwischen Gesellschaftssatire, Milieustudie und
menschlicher Tragödie angesiedelt. Sagten die einen. Dann war wieder zu hören,
die märchenhafte Komödie sei mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor
gewürzt worden. Paul Burian ist es gelungen, einen Konflikt auf die Bühne zu
bringen, der auf Grundstrukturen familiären und zwischenmenschlichen Agierens
zurückzuführen ist. Die Figuren in einem Schaulauf durch die Höhen und Tiefen
menschlicher Existenz, seien teilweise grotesk überzeichnet worden, ohne sie zu
denunzieren. Der Regisseur Burian zeige fatale Fluchtstrategien: Aufstieg und
Fall von Little Voice - der „Großen, kleinen Stimme“. Oder allgemein gesagt:
Werden und Vergehen, Blühen und Absterben, Krieg und Frieden, Sieg und
Niederlage. Wie schön. Wie alltäglich.
Aber in diesem Stück geht es
nicht um Steffi Graf oder den Schwimmstar Franziska van Almsick, sondern um ein
junges menschenscheues Wesen, das die Gabe besitzt die Stimmen seiner Vorbilder
Judy Garland, Edith Piaf, Marilyn Monroe und Shirley Bessey perfekt zu
imitieren. Und wie es üblich ist in unserem allzumenschlichen, trivialen Leben,
wittert da einer sein Geschäft. Und das scheitert, weil Little Voice nur in
ihrer klitzekleinen Traumwelt zurechtkommt, in der sie die vom Vater ererbten
Lieblingsplatten hört. Zum Verdruß der Mutter - und da haben wir ihn den
Mutter-Tochter-Konflikt.
Die Preisträgerin des vergangenen
Jahres in dieser Sparte Ingrid Richter-Wendel spielte diese Mutter - versoffen,
sprunghaft-unberechenbar als vulgäre Schlampe mit dem Drang zu Höherem. Sie erscheint als die tragische Gestalt des Stückes -
schrieb Theophil Hammer. Nüchtern dagegen umreißt Claudia Ihlefeld diese Frau,
die da auf ihrem glutroten Bett lauert wie eine hungrige Wölfin, in ihrer
rasenden Sucht nach Männern, Alkohol und Anerkennung. Eine personifizierte
akute Absturzgefahr. Was übrigens für alle in Jim Cartwrights Gruselkabinett
gilt. Anmerkung: Es ist ein alter Lehrsatz der Ästhetik, daß das Abschreckende
nicht abschreckend dargestellt werden darf. Im zeitgenössischen Theater kaum
beherzigt.
Dessen ungeachtet: Realitäten des
menschlichen Lebens auf die Bühne bringen - wollte der Regisseur Paul Burian.
Nicht den Schauspielern einfach seine Ideen überstülpen, nicht die Peitsche
schwingen. ‚Mich interessiert, was Menschen anbieten - und was ich aus ihnen
herauslocken kann‘. Ließ er bei den Proben verlauten. Und das Resultat? Zu
isoliert bleiben die handelnden Personen. Ihre Charaktere durchlaufen keine
Entwicklung. Samt und sonders handelt es sich um deformierte Gestalten, die zu
sinnvoller Kommunikation oder zur Problemlösung nicht fähig sind, weil sie mit
sich selbst genug zu tun haben. Das Stück hinterläßt beim Betrachter keine
tieferen Spuren. Schrieb die Stuttgarter Zeitung. Und die Heilbronner Stimme:
Das Stück wurde beim Premierenpublikum im Großen Haus begeistert aufgenommen.
Bei diesen Unterschieden macht Zeitunglesen wieder Spaß.
„Die Vokale kostet sie auf ihrer
Zunge wie schweren, dunklen Wein. Ihre Augen scheinen Dinge zu sehen, die kein
Mensch vor ihr je sah. Ihre Bewegungen rutschen graziös ins Trancehafte. Sie
schreitet hellwach an der Grenze zum Wahnsinn entlang, macht mal einen Schritt
hinüber, dann wieder einen Sprung herüber. Ihre Figuren kommen aus dem Reich,
in dem sich Körper in Gespenster auflösen, blitzgescheit und komisch.“ - Sowas
liest man gern. Aber es ist keine Beschreibung der Preisträgerin für die beste
weibliche Hauptrolle, für Viola von Lewinski.
Und noch ein Zitat - wenn ich
schon dabei bin: „Sie scheint ihre Figuren mit den Schultern, die sie kullern
und kugeln lassen kann, vor sich herzuschieben. Läßt die Augen rollen, die
Sprache in lauter stimmhafte „S“ sich ironisch aussingen, nudelt und schnauft
über Abgründe hinweg. Sie kann, wenn das Herz spricht, zu einem Hohnklumpen
eingefrieren. Und sie kann, wenn Blut fließt und Mord grassiert, so
sachlich-fröhlich sein wie bei einem Kaffeekränzchen - nur: daß man hinterm
Klumpen das Herz auch spürt und hinterm Lächeln den Schrecken schmeckt.“ - Da
hat einer die Worte im Hirn abgeschmeckt. Eine schöne Beschreibung. Aber mit
unserer Preisträgerin und ihrer Preisrolle hat das wieder nichts zu tun. Auch
wenn ich Ähnliches gern über sie gelesen hätte. Was nicht ist, kann ja noch
werden.
Sie werden sich jetzt fragen: Was
wurde über sie denn gesagt? Heilbronner
Stimme: „Die schüchterne Little Voice (Viola von Lewinski) lebt zurückgezogen
in ihrer Kunstwelt voller Schallplatten großer Sängerinnen und Stars. Die
gnadenlose Abrechnung von Little Voice mit der Mutter - schrill und etwas
hektisch versucht Viola von Lewinski hier Spannung zu lösen.“ Und die
Stuttgarter Zeitung: „ ...in sich
zurückgezogen: Viola von Lewinski.“ Das wars - nicht eben viele Worte von der
Kritik im September 1994. Aber Sie,
die Mitglieder des Theater-Vereins haben demokratisch entschieden. Viola von
Lewinski erhält für die beste weibliche Hauptrolle den Kilianpreis 1995. Und
damit haben Sie Gescmack und Qualität bewiesen.
Denn Sie kennen diese 158
Zentimeter große junge Dame, die zwischen 25 und 30 Jahre alt sein dürfte. Ihr
Alter will sie ja nicht verraten - da sei sie furchtbar eitel. Sie, die
regelmäßigen Theaterbesucher haben Viola von Lewinski als Virginia in
Canterville, als Karoline in „Kasimir
und Karoline“, als Recha im Nathan, als Mädchen im „Der Weg zum Bahnhof“, als
Sozialarbeiterin in „Hungrige Herzen“, als Kristin in „Fäulein Julie“, als
Mitzi in „Der Drang“, als Angel City Four in „City of Angels“ oder als Little Voice
in „Große kleine Stimme“ gesehen, bewundert, lieben gelernt.
Geliebt hat Viola von Lewinski,
so sagte sie als sie in Heilbronn eintraf, die Rolle der Lena in einer Bremer
Studentenproduktion von Büchners „Leonce und Lena“. Sie schätze mehr das modernistische
Theater, das nicht so direkt eins zu eins genommen werde. Sie liebt die
Verbindung avantgardistischer Musik mit Sprache. Und fast ebenso wichtig wie
die Arbeit unter Hansgünther Heyme in Bremen ist ihr, der Absolventin der
Berliner Hochschule der Bildenden Künste, das Spiel in unabhängigen
Produktionen gewesen. Hohe Ansprüche einer energiegeladenen Schauspielerin.
Aber bekannt ist ja auch, daß das
Gewerbe der Schauspieler changiert -
zwischen Betrug und Gottesdienst, Hochstapelei und höherer Bedeutung. Die Frage
ist, in welcher Gesellschaft das Gewerbe ausgeübt wird. Die deutschen
Schauspieler, so sagte ein George Tabori in einem Interview, tun alles. Sie
machen Sachen, die kein englischer oder amerikanischer Schauspieler machen
würde. Wenn man einem amerikanischen Schauspieler sagt: ‚Hier sollst Du weinen
und wütend sein‘. Dann gibt er zurück: ‚Jetzt gleich? Du spinnst wohl.‘ Tabori
meint damit: in Amerika sei das Theater ganz anders. Dort sind die Schauspieler
die Hauptsache, bei uns ist es der Regisseur. In Deutschland gibt es noch ganz
stark die Tradition des Hoftheaters, die Hierarchie vom Intendanten bis
hinunter zum Anfänger. Außerdem sind Ordnung und Disziplin primäre Tugenden, im
Gegensatz zu Freiheit und Anarchie wie in England und Amerika.
Faszinierend - diese
Allgemeinplätze.
Aber dafür, daß der deutsche
Schauspieler sich darauf hat trainieren lassen, von Regisseuren gebrochen und
gebogen zu werden, hält er sich dann als Leidender schadlos. Er macht aus
seinem Masochismus einen Anspruch. Zunächst einen Anspruch an sich selbst. Er
wird, bevor noch der Regisseur an ihn herantritt, sofort bei sich selber Regie
führen, die Figur, die er spielen soll, abfragen, welchen Sinn, welche
Interpretation er ihr unterlegen soll. Der deutsche Schauspieler greift gerne
zum passenden psychologischen Kästchen, in das er die Figur und sein Spiel
preßt. Er sucht nicht nach dem Leben, das er darstellen soll, er greift nach
dem Papier, in das er das Leben einwickeln kann.
Und daraus folgt: Viele deutsche
Schauspieler haben Zeitungsausschnitte in der Tasche, die sie zücken wie
Beweise. Übrigens nicht nur Schauspieler - auch Politiker. Aus diesen
Papierfetzen ist ersichtlich, daß er oder sie ein wunderbarer Schauspieler ist.
Er, der Herr der Kästchen, ist süchtig nach Kästchen-Worten, Schubladen-Phrasen
und Etiketten. Faule Kritiker sind seine Komplizen. Ein einziges „wunderbar“
oder „genial“ hilft über Jahrzehnte der Demütigung hinweg und berechtigt ihn
nach den Sternen zu greifen. Und in mancher Kritik wird auch stehen, er habe
die Sternenrolle geschultert. Oder es steht da, er sei unter ihr
„zusammengebrochen“. Deutsche Schauspieler spielen viele Rollen, aber in allen
Rollen meist die eine: die Rolle des Atlas, der die Welt trägt und erträgt..
Dabei sind sie doch nichts als
Fleischmacher - und die Goldfinger des Theaters. Der Schauspieler macht aus dem
fremden Wort sein Fleisch und verwandelt den oftmals privaten Mist des Autors
in öffentliches Gold. Beides sind heilige Vorgänge - ist hochsensible und
eitel-brutale Verwandlungsmystik. In jedem Schauspieler - so hoffe ich doch - steckt auch etwas von
einem Priester und vom ziegenbeinigen Zaubergott Dionysos. Ist Viola von
Lewinski diese Fleischwerdung von
Papier, diese Verwandeln von privatem Mist in öffentliches Gold ein wenig
gelungen? Ja, meine ich - und Sie, die Jury haben das bestätigt.
Es gibt in den „Besuchern“ von
Botho Strauß einen Jungmimen namens Max, der die Bühne leerspielen, sich
wenigsten für zwei, drei Sekunden neben der Wahrscheinlichkeit aufhalten will.
Er möchte dem Publikum etwas Wunderbares, Unerhörtes, Grenzüberschreitendes
zeigen. Und lapidar vernichtet im gleichen Stück der große, brillante Karl
Joseph mit einer behaglichen Philippika dieses Ansinnen: „Nicht wahr, die
Bühne, das Theater. Das waren schon tausend Taten, tausend mehr oder weniger lebensentscheidende
Handlungen. Und am Ende hat sich nichts getan. Man hat telefoniert, geliebt und
sich verwechselt. Man ist gerannt und hat gewartet. man hat sich versteckt und
sich aufgeplustert. Man hat sein Herz verloren, bekam den Schädel gespalten und
hat mit verdrehter Zunge gesprochen. Man war der eitle Verführer und der dumme
August. Und am Ende? Am Ende ist die Bühne gerade so leer wie am Anfang.“ Ende
der Vernichtung. Heute ist diese Bühne voll - voller prämierter Theaterleute.
Und voll von Lobpreisungen. Dazu haben wir ja auch allen Grund.
Theater-Verein
Heilbronn e.V.
Stadttheater Heilbronn
Stadttheater Heilbronn
am 9. Juli 1995
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