Samstag, 29. März 2014

Stadtheater Heilbronn - Klaus Wagner, Intendant des Stadttheaters in Heilbronn (1987)


Portrait des Intendantes des Stadttheaters Heilbronn

Klaus Wagner verabscheut Hinterfotzigkeit

Von Jürgen Dieter Ueckert

„Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin.“ – Eine Sprichwort-Abwandlung, die als Motto auf dem Heilbronner  Theater-Intendanten Klaus Wagner durchaus zutreffen könnte. Denn er löckt nicht nur wider den Stachel, er benötigt die Unruhe wie der Fisch das Wasser zum Leben.

Das größte Unglück für Wagner wäre, „nichts tun zu können“. Und als Hauptcharakterzug erkennt er bei sich „Beharrungsvermögen“. Helden in der Wirklichkeit sind für ihn „alle Unbeirrbaren“, als Heldinnen in der Geschichte bezeichnet Wagner „die stolzen Gescheiterten“. Dem widerspricht auch nicht, dass er als natürliche Gabe „Menschenkenntnis“ besitzen möchte. Klaus Wagners Traum vom Glück ist „Wechsel mit immer neuer Intensität“. Und was wäre für den Heilbronner Intendanten das größte Unglück? Wagners lapidare Antwort: „Langeweile“.

Heilbronns Bürger und Stadtverwaltung kennen ihren Intendanten als einen Mann, der zumeist am schmalen Kraterrand seiner Theaterexistenz balancierend entlang wandert – zum Stauen und Wundern des gaffenden Publikums. Und sieht es mal so aus, als strauchle er, kippe ab in den allesverschlingenden Abgrund, begleitet von vielen „Ohs“ und Ahs“, dann wird eine akrobatische Figur gezaubert, teilweise mit einer clownesken Haltung garniert – und schon ist alles wieder im Lot.

Alle, die schon hofften, oder sich sogar wünschten, Klaus Wagner würde stürzen, sind ebenso erstaunt wie das ob Wagners Beweglichkeit begeisterte Publikum. In Heilbronn wird, wenn’s ums Theater geht, auf allen Ebenen gespielt.

Klaus Wagner, dessen Lieblingsfarbe „Weiß“ ist, der sich recht bescheiden „das Gänseblümchen“ zur Lieblingsblume erkor, der sich als Lieblingsschriftsteller Henry Miller wählte, deren Lieblingsnamen „Madeleine und Michael“ lauten, der „Tapferkeit“ zu seiner Lieblingstugend zählt – für diesen Mann gibt es selbstverständlich nur eine Lieblingsbeschäftigung: „Theater machen.“

In Frankfurt am Main wurde Klaus Wagner am 5.Mai 1930 als Sohn eines Kaufmanns, der „aus dem Nest gefallen war“, geboren. Aus dem Nest deshalb, weil der Vater aus einer Pfarrfamilie stammt. Als der kleine Klaus acht Jahre zählte, wurde der Vater von den Nazis abgeholt. „Eineinhalb Stunden ließ der Zwei-Zentner-Mann seine Schergen warten, um sich ordentlich anzuziehen und gut zu frühstücken. Der Vater wusste, dass es Jahre dauern würde, ehe er seine Familie wiedersehen würde. 1945 kam er aus dem Konzentrationslager zurück – der Mann wog noch fünfzig Kilo.“ – Unkontrollierte Macht ist Klaus Wagner seither ein Gräuel.

In Frankfurt lebte der Knabe Klaus nur eineinhalb Jahre. Die einzige Erinnerung an diese Zeit: eine Krankheitsgeschichte. Er litt ein dreiviertel Jahr an Kinderlähmung. Aufgewachsen ist Wagner dann in Trostberg, einer kleinen oberbayrischen Stadt am Chiemsee. Die Großeltern mütterlicherseits besaßen dort ein alteingesessenes Textilgeschäft. Die Mutter Klaus Wagners führte es nach dem Tod des Großvaters weiter.

An die Schulzeit erinnert sich der Fahrschüler Wagner, der allmorgendlich mit dem Zug nach Traunstein ins Gymnasium anreiste ins Gymnasium anreiste, mit dem Stichwort „Ausnahmesituation“. Da das Schulhaus im Krieg Lazarett war, wurde der Unterricht in Hinterzimmern von Gasthöfen angehalten. „Lernstress gab es nicht, nur das Phänomen, dass jemand nicht mitkam. Ich habe zum Beispiel die Pose gehabt, nicht von Mathematik zu verstehen. Wir hatten einen Lehrer, der uns das Fach als geistiges Phänomen begreifen ließ.“

Mit seinen Lehrern habe er überhaupt insgesamt Glück gehabt, erinnert sich Klaus Wagner heute. Fasziniert habe ihn immer wieder die „Begegnung mit Geist“ – Stichwort: „Parallelen treffen sich im unendlichen.“ Der katholische Geistliche, ein sommersprossiger, rothaariger und lispelnder Lehrer, „das Schlimmste für Kinder“, wurde mit „HJ-Gedanken“ bedroht: „Wenn er nicht macht, was uns gefällt, sagten wir Schüler, dann treten wir aus dem Fach Religion aus.“ Erfolg: Man lernt in den Religionsstunden das Hobby des Priesters kennen; die Sternwarte, das Fotografieren des Himmels, die Erklärung des Makrokosmos, den auseinanderbrechenden Raum.

Kriegszeit war für den Jugendlichen Klaus Wagner „Friedenszeit“ – ohne Bomben und Kriegsgräuel. Die Familie lebte im geistigen Widerstand zum Naziregime. Das Geschäft der Mutter wurde teilweise boykottiert, weil der Vater im KZ saß. Onkel Walter war Bankdirektor und „von kommunistischer Gesinnung“. Der Postbote, „Herr Sachs“, gehörte zur „kleinen Verschwörung“, trommelte bei den Wagners immer die ersten Takte der Fünften von Beethoven an die Haustür. Die Wagners waren eben anderer Meinung und hatten daher immer etwas zu verbergen – von der Nazi-Staatsgewalt.

„Mit elf Jahren spielte ich erstmals den Faust – mit fünf Pfund Schminke im Gesicht.“ Theater habe er gemacht und nebenbei sei er zur Schule gegangen. Clavigo und Egmont spielte schon der 16- und 17-jährige Klaus Wagner. Seine kleine Schüler-Schauspieltruppe trat vor den Nazis mit solchen Durchhaltestücken auf, die später von den Amis als Freiheitsdramen geboten wurden – und verdiente dabei eine Menge Geld. Viertausend Mark hatte die Wagner-Truppe erspielt und avancierte damit zum Wohltäter ihrer Schule, der man mit dem Geld eine Berghütte kaufte.

Nach dem Abitur im Jahre 1949 musste Klaus Wagner aus seinen Studienplatz in München warten. Drei Semester lang brachte er die Unibibliothek in Ordnung. Bei Arthur Kutscher studierte er dann Theaterwissenschaften – nebenbei auch noch Kunstgeschichte. Studienkollegen von Wagner in München waren Günter Gaus, August Everding und Peter Hacks – zum Beispiel. Gaus habe damals große politische Manifeste von sich gegeben. Die Studenten hätten in dieser Stunde Null gedacht, alles tue sich von selbst neu – „wir brauchen nichts tun“. Später sei man dann frustriert gewesen, weil nicht alles in der Nachkriegszeit so gelaufen sei, wie man es sich erdacht habe.

Klaus Wagner hielt es im Unibetrieb nicht lange aus. „Ich hatte eine brennende Energie; wollte raus und was tun.“ Staatsexamen und Promotion ließ er dahinfahren. Im Frankfurter „Theater im Zoo“ wurde er bei Fritz Rémond „Mädchen für alles“. Regieassistent, Inspizient und Kleindarsteller. Von 1951 bis 54 lernte Wagner in diesem Haus eine Theater-Atmosphäre kennen, in der nur die „zupackende Verbindung zwischen Theater und der Zuschauern“ zählte. Rémond brachte Schauspiel an die Leute, in dem das Flair zählte. Eine Aussage ohne theatralische  Mittel war eben keine – Punktum. Auch die negativen Seiten dieser Arbeit lernte Klaus Wagner kennen: „Aber im Rückblick ist mir das lieber als eine keimfreie Atmosphäre.“

Seit dem Jahre 1953 ist Klaus Wagner als Regisseur tätig: „Ich habe Rémond erpresst. Er war auf Sylt. Ich sagte ihm, wenn ich nicht inszenieren darf, dann gehe ich – sofort. Er sagte mir: wenn du bleibst darfst du inszenieren.“ Die erste Arbeit war eine deutsche Erstaufführung „Labyrinth“ – ein Stück über ein Irrenhaus. Und danach inszenierte er „furchtbar viel Shakespeare“ und mit Boy Gobert zum Beispiel „Einladung ins schloss“. Klaus Wagner wurde herumgereicht als junger und begabter Regisseur in Essen, Hamburg, Bern, Basel, Baden-Baden – und erhielt begehrte Kritiker-Preise.

In Bremen wurde er dann Oberspielleiter am Schauspiel und kündigte nach acht Monaten wegen eines Krachs mit dem Intendanten den Vertrag. In Bern dauerte das Engagement in gleicher Position von 1956 bis1958. 1954 schon begann Klaus Wagners Wanderzeit als Gastregisseur: „Das war Flucht. Das sucht man sich nicht aus.“ Seit 1959 inszeniert er Fernsehspiele.  Für „Das Betriebsfest“, das Wagner für den NDR gemacht hatte, erhielt er den begehrten Grimme-Preis. Später arbeitete er viel für den hessischen Rundfunk, den NDR, die Bavaria und das ZDF. „Ich habe das mit Professionalität gemacht. Und das war damals fürs Theater verdächtig.“ Theater und Fernsehen standen sich in jenen Jahren noch als feindliche Medien gegenüber.

„Ein Privatleben gab es in dieser Zeit kaum, wenn dann nur im Theater oder gar nicht.“ Kinder hat Klaus Wagner nicht. Verheiratet ist er mit der Schauspielerin Madeleine Lienhardt – in zweiter Ehe. Seine „private Häuslichkeit“ liegt im Hunsrück. „Ich konnte mir damals kein Hemd leisten, aber ein Haus musste es sein – ein 300 Jahre altes Weingut. Ich sehe den Bau gerne wachsen – und renovierte heute noch viel. Ein Stück Heimatlichkeit ist das – es kommt aus meinem Sternzeichen Stier und seiner Tendenz, das zu bewahren.“

Heilbronn war für Klaus Wagner ein Zufall. „Ich hatte betrieben, Intendant zu werden - Heilbronn war eine Möglichkeit. Gereizt haben mich die Voraussetzungen, die ja nicht berechenbar waren.“ Nach seiner Wahl durch den Gemeinderat der Stadt im Juli 1979 gab der frischgebackene Intendant Klaus Wagner in einem Interview zu Protokoll: „Bisher habe ich immer gesagt, ich habe die drei Wohnzimmer: das eine ist das Auto, das zweite ist das Café am Nachmittag und das dritte ist die Wirtschaft am Abend, in der man sitzt. Das wird jetzt anders werden. Darauf freue ich mich.“ Zu Hause in Heilbronn - das ist das Theater und eine kleine Wohnung, nahe dem Berliner Platz.

Nach rund zwei Jahren in den Heilbronner Theater-Provisorien „Gewerkschaftshaus“ und „Altre Kelter“, in denen Klaus Wagner schon vorstellte, was er im neuen Theaterbau am Berliner Platz verwirklichen  wollte, verwandelte der Intendant ab dem 16. November 1982 den Neubau in einen Hexenkessel. Er probierte alles aus, testete das Publikum auf seine Belastbarkeit – niemals attackierend, sondern umsichtig und vorsichtig bohrend. Sein Schlagwort: „Vielfalt und Überraschung.“ Der Aufbau des „Vollbetriebs“ war für Klaus Wagner Herausforderung – und wurde ein großer Erfolg.

Auch zurzeit befindet er sich wieder „in einer fast beneidenswerten Situation, von der man eher Angst haben muss, dass es auch so weitergeht.“ Die Abonnentenzahlen steigen, die Zuschauer reißen sich um Karten – die Abstimmung über den Erfolg findet für ihn allabendlich an der Theaterkasse statt, nicht in denn  Bürokraten- oder Kritikerstuben.
Eine „Grundvoraussetzung für den Erfolg“ ist für Wagner das funktionierende Schauspiel. Daran und an allen anderen Planungen arbeitet er mit dem kleinen Ensemble von knapp dreißig schauspielern – Tag und Nacht. Bei seinem Ensemble soll der Grundsatz gelten: Originalität und ihre Irritierbarkeit müssen Qualität erbringen, nicht die Gesichertheit engagiert zu sein. „Das heißt dann auch, wenn nach sieben Vorstellungen etwas nicht stimmt, dann lass ich das nicht durchgehen, sondern setze neue Proben an.“

Fehler entschuldigt der Intendant, wenn sie „aus Dummheit“ geschehen. Am meisten verabscheut er „Hinterfotzigkeit“. Geschichtliche Gestalten, „die nichts verkörpern als sich selbst“, verachtet er. „Geordnete Rückzüge“ sind militärische Leistungen, die Klaus Wagner am meisten bewundert. Das vollkommen irdische Glück für ihn „gibt es nicht, Gott sei Dank“. Seine Geistesverfassung derzeit ist „wach und tätig“. Und sein Motto lautet: „Weitermachen.“

Neckar-Express
Donnerstag, 24. September 1987
Rhein-Neckar-Zeitung
Samstag, 26. September 1987

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