Laudatio auf eine Schauspielerin
Sie macht uns
Lachen
und erschreckt uns,
erschüttert und bewegt uns
Von Jürgen Dieter Ueckert
Schauspieler
und Gaukler werden nicht mehr vor der Friedhofsmauer beerdigt.
Ebensowenig wie Ärzte und Henker. Schauspieler werden auch nicht mehr
als seltsames Gesindel angesehen, das mit seiner Spiegelung der
Wirklichkeit Gottes eine gesittete Welt in Unordnung oder gar in Teufels
Küche bringt. Schauspieler werden heute geachtet und geehrt. Nicht
überall und zu jeder Zeit. Aber an diesem Tag in Heilbronn.
Ein
Satz gilt dennoch - immer noch: dem Mimen flicht die Nachwelt keine
Kränze. Mit einer Einschränkung: Mimen, die auf einer Filmrolle in
vielen kleinen Bildchen verewigt sind, diesen Mimen flicht die Nachwelt
gelegentlich noch Kränze. Aber jenen, die nur auf der Bühne standen?
Deren Kränze sind größtenteils verwelkt - manchmal sogar zwischen zwei
Buchdeckeln. Was heute geehrt wird, bleibt in den Buchstaben der
Tageszeitung, in einem Bild und in Tönen auf Magnetband vielleicht
erhalten. Aber wie Sisyphus den Stein einst auf den Berg rollte, so wollen wir heute die Kränze flechten und auf den Berg dieses Festes rollen.
Wer
in Heilbronn theatralische Kunst erleben wollte - so vor einem viertel
Jahrhundert - ja, der erlebte diese Kunst wie jene Bürger, die vor
einhundert Jahren in dieser Stadt Theater erleben mußten:
reichlich provisorisch. Dem ersten richtigen Theaterbau am Ende der
Allee, 1913 erbaut, folgte der zweite knapp siebzig Jahre später. Und
nach dem Krieg gab es 37 Jahre Theater-Provisorium. Das hat sich
geändert: Markenzeichen heute - ein volles Theater und ein Torso als
Theaterbau. Wer vom Norden in die Stadt kommt, dessen erster
Theatereindruck ist eine weiße Wand und ein leerer Schotterplatz. Erst
dann sieht er das Theater. Auch das kann sich ändern. Wenn man nur will.
Ein Kind, ein Jugendlicher - welche Theatererlebnisse wurden dem vor rund 25 Jahren in und um Heilbronn geboten? „Götz von Berlichingen“ in Jagsthausen - ein absolutes Muß. Man las das Drama ja in der Schule - in verteilten Rollen. Da konnte und mußte jegliches Spektakel im Burghof nur besser sein. „Die Bürger von Calais“ oder „Jedermann“ auf den 54 Stufen in Schwäbisch Hall. Genickstarre vor Erhabenheit und der steilen Treppe. „Minna von Barnhelm“ und „Die Entführung aus dem Serail“ am Stuttgarter Staatstheater. Wer hätte das gedacht - erstaunlich, was Theater alles kann, mußte sich der kleine Provinzler sagen. Und dann das Heilbronner Bison-Provisorium im Gewerkschaftshaus - als Hausmannskost.
Ich muß
es nochmals sagen: es ist heute noch eine Schande für Heilbronn, unter
welchen Bedingungen dort Theater produziert und gespielt werden mußte. Ein Kultur-Markenzeichen der Wirtschaftswunder-Stadt Heilbronn. Und trotzdem gab es "Wallenstein" - beide Teile, die vielen Anouilh-Stücke, „Spitzenhäubchen und Arsenik“, sogar „My Fair Lady“, Shakespeare in Hülle und Fülle, Gerhart Hauptmann, Molière - auch Lessings "Nathan" auf einer Bühne, die keine Bühne war, in einem Theater, das eben nur ein Saal im Gewerkschaftshaus
war. Aber es wurde dem jungen Menschen eine Menge an Theaterliteratur
geboten - und das war immerhin besser als so manch langweiliges
Reclamheft.
Einige von ihnen werden sich noch an „Hello Dolly“ mit Rotraud Grauer erinnern. Oder an Max Frisch „Biografie“ - mit Johanna Hanke. Damals sehr modern, zeitgenössisch. Zwei Schauspielerinnen aus jener Zeit um 1968/69, sie sind alten Theatergängern noch gut in Erinnerung. Und zu dieser Zeit kam auch eine junge Frau aus Krefeld ins Bison-Ensemble. Wenn ich mir ihr Paßbild von damals anschaue: recht modisch in Augenschminke und Haaren - es hätte in die Twiggy-Richtung gehen können. Das hatte man damals. Aber es kam dankenswerter Weise anders. Kraftvoller - und viel mehr Frau.
Da stand sie nun - auf der Bühne des Provisoriums im Gewerkschaftshaus.
Ein Energiebündel mit einer eigentümlich preußischen Disziplin. Ein
Vulkan, der nur gelegentlich Lava spuckte. Aber der aufmerksame
Zuschauer sah das Leuchten der Glut
in ihrer Mimik, in ihren Gesten, spürte das Zittern, das auf
unterirdische Eruptionen hinwies. Und dann gab es - vor allem in Stücken
von Gerhart Hauptmann und jetzt bei Bertolt Brecht - diese Erdverbundenheit,
dieses Stehen mit beiden Beinen auf dem Boden einer brüchigen Realität.
Und der Kopf, der war schon in den Wolken, beim Ach-so-Gut-sein-Wollen,
und die Gefühle, die schwammen herum wie Brotstücke in der ärmlichen
Suppe. Und wenn all das zusammengeschüttet war, im Chaos, dann gab es
bei ihr, die wir heute ehren, diese Anklage gegen das Unrecht im
Schicksal, gegen jene Götterwelt, die uns Menschen so unwürdig
dahinkriechen läßt und uns gleichzeitig so erhöht - eine Anklage, die bei ihr nichts ist als ein stiller Schrei.
Ein stummer Schrei, der eigentlich in jedem Theatervorhang, in diesem ganzen Raum als Markenzeichen kleben muß.Und wie nah beieinander liegen ihre Werkzeuge im schaupielerischen Handwerkskasten: das Wirbeln und Tanzen wie ein Derwisch, die derbe, dann wieder lustvolle Freude am puren Spiel - „Laßt mich auch noch den Löwen spielen, Meister Squenz.“
Oder das laute völlig ungebundene Fröhlichsein, dann wieder das zarte
Herantasten ans Gegenüber, das schroffe Abweisen und das kalte Sezieren
beim Schutz der eigenen Persönlichkeit.
Sie zieht
Register, die mich immer wieder zum Staunen bringen. Sie macht uns
Lachen und erschreckt uns, erschüttert und bewegt uns. Aber sie lullt uns nicht ein.Wenn ich an ihre Schauspielkunst denke, dann schieben sich bei mir Konturen ihrer Kolleginnen Karin Schlemmer, Kirsten Dene
und Anneliese Römer ins Bild. Viele Rollen, die sie hier in Heilbronn
spielte, sah ich an anderen Theatern mit jenen Schauspielerinnen
besetzt. Da ist Verwandtschaft. Mit dem Unterschied: sie - die wir heute
ehren - kränkelt nicht so stark wie jene, ist weniger brüchig. Sie ist nicht blaß vor Gedankenschwermut.
Denn sie hat noch eine Prise Marika Röck in sich, die sie - wie der Baron Münchhausen - sich selber immer aus dem Sumpf ziehen läßt.Deshalb habe ich mich oft gefragt: hat diese Stadt, dieses Theater, dieses Publikum Ingrid Richter-Wendel überhaupt verdient? Sollte diese Frau ihren Mut, ihre Lebenslust und Lebensfreude, ihr Können nicht viel, viel mehr Leuten, Theaterenthusiasten und -liebhabern mitteilen müssen? Eine müßige Frage: Sie lebt und arbeitet hier - in dieser Stadt, an diesem Theater, mit diesem Publikum.
Und
der Grund dafür: sie ist zu deutsch, sehr preußisch, treu - als Mutter
ihrer Kinder, als sorgende Wirtschafterin ihres Haushaltes, als präzise
Schauspielerin, die mit gelerntem Text bei der ersten Probe erscheint.
Sie weist Tugenden auf und ist damit eine Schauspielerin, wie sie sich
ein Intendant nur wünschen kann. Selber backen geht nicht. Also
pfleglich behandeln.
Und deshalb hat diese Stadt, dieses Theater, dieses Publikum allen Grund, herzlich dankbar für Ingrid Richter-Wendel zu sein. Vor allem für ihre Interpretation der Mutter Courage, die eine Frau, eine Schauspielerin wie sie einfach spielen muß, weil sie eine Mutter Courage ist.
Und ich glaube auch, ja - ich weiß es: das Publikum, das Theater, die Stadt - wir alle, wir lieben Dich, Ingrid Richter-Wendel.
Und danken Dir dafür, daß
Du in vorderster Front für den heißumkämpften Theatergedanken in
Heilbronn durch Deine Leistung immer den Sieg errungen hast. Dieser
Preis des Theatervereins sei Deine Trophäe aus dem unermüdlichen Kampf.
Stadttheater Heilbronn - am 26. Juni 1994
Theater-Verein Heilbronn e.V.
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